Kindererziehung: Wenn das Kind bestimmt
Eltern erziehen ihre Kinder. Das ist ja klar. Doch ist das wirklich immer so? Zwar nehmen sich wohl alle Eltern noch vor der Geburt vor, sich von ihrem Nachwuchs niemals erpressen zu lassen, doch im Elternalltag zerfallen diese guten Vorsätze zur Kindererziehung nur allzu schnell.
Kindererziehung: Wer erzieht hier eigentlich wen?
Wenn das Kind im Supermarkt vehement nach Süßigkeiten schreit, wenn es bis zur Einschulung im Elternbett schläft, wenn es den Tagesablauf bestimmt, bis es volljährig ist, oder wenn ihm jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird – so etwas passiert immer nur bei anderen...
Wirklich?
Seien wir ehrlich: In Wahrheit ist es gar nicht so einfach, als Eltern die Oberhand zu behalten.
Kinder haben das Sagen – und zwar viel öfter als man denkt
Nach Meinung von Fachleuten ist es in vielen Fällen sogar so, dass die Eltern nicht mehr ihre Kinder erziehen, sondern die Kinder den Spieß mehr oder weniger unbemerkt umdrehen und plötzlich selbst das Sagen haben. Kinder sind ab einem gewissen Alter wahre Meister der Manipulation. Schon Kleinkindern gelingt es auf verschiedenste Art und Weise, ihre Wünsche durchzusetzen, Mama und Papa nach Strich und Faden zu umgarnen, Aufmerksamkeit zu erzielen und den Ton anzugeben. Das geht sogar so weit, dass die Kinder das Verhalten ihrer Eltern genauestens beobachten und daraus Schlüsse ziehen, wie genau diese ticken. Daraus leiten sie ab, mit welchen Strategien sie ihre Wünsche im Einzelfall durchsetzen können. Ganz schön schlau, oder?
Schon Babys haben feine Antennen
Schon Babys sind ausgesprochene Meister in dieser Disziplin. Ein Baby lernt schnell, dass Mama bei seinem intensiven Geschrei herbeigeeilt kommt und sich kümmert. Es erkennt, dass es ganz einfach ist die elterliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Woran es liegt, dass vor allem Mütter prompt reagieren, wenn das Baby schreit, ist schnell erklärt und aus evolutionärer Sicht auch völlig einleuchtend: Bei der Geburt werden das weibliche Hormon Östrogen sowie Oxytocin und Endorphine ausgeschüttet. Dieser Hormoncocktail sorgt für besonders innige Gefühle und eine intensive Bindung zum Kind. Das Ergebnis: Die Mutter reagiert auf Geräusche von ihrem Kind besonders sensibel.
Ab wann wird es kritisch mit dem Verwöhnen?
Allerdings heißt das mitnichten, dass bereits Säuglinge ihre Eltern manipulativ nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Erst in einem Alter von 3 oder 4 Jahren sind die Kinder in der Lage, so abstrakt zu denken, dass ihnen eine solche Manipulation überhaupt gelingen kann. In dem Alter lernen sie, dass andere Menschen Bedürfnisse haben, dass sie mit ihren Aktionen Handlungen bei anderen auslösen können und wie man jemanden anschwindelt oder täuscht. Es stimmt: Babys lernen schnell, dass die Mama springt, wenn sie schreien. Doch in der ersten Zeit ist das gut. Es hilft dem Kind, Urvertrauen aufzubauen, und signalisiert ihm, dass es mit seinen Ängsten, Nöten und Bedürfnissen ernst genommen wird. Darum sollten Mütter unbedingt ihrem Instinkt folgen und auf Babys Weinen reagieren.
&
Verwöhnen oder nicht…?
Die Bedürfnisse von Babys sollten nicht hintenan, sondern an erster Stelle stehen und immer ernst genommen werden. Babys haben nicht das Kalkül, ihre Eltern ärgern zu wollen. Dazu sind sie kognitiv noch gar nicht in der Lage. Bedürfnisse von Babys wie Nähe, Liebe, Wärme, Nahrung oder Schlaf sollten sofort erfüllt werden, weil Babys es noch nicht verstehen, wenn sie auf Zuwendung warten müssen. Die wenigen Bedürfnisse, die Babys haben, sind Grundbedürfnisse! Sie sind existenziell und nur, wenn sie erfüllt werden, fühlt sich euer Baby geliebt und wichtig. Nur dann kann es Selbstvertrauen entwickeln. Deswegen solltet ihr als Eltern die Bedürfnisse immer möglichst zeitnah befriedigen. Man kann es nicht oft genug betonen: Babys kann man nicht verwöhnen!
Wird das Kind dann größer, ist ab einem Alter von etwa 1 Jahr vonseiten der Eltern durchaus auch mal ein wenig Skepsis angebracht.
Wenn sich der Nachwuchs dann im Kleinkindalter vor dem Süßigkeitenregal im Supermarkt wütend auf den Boden wirft, will er damit nämlich sehr wohl, seine Grenzen auszutesten. Und spätestens in diesem Alter dürfen die Eltern dann auch mal anfangen, ihrem Sprössling klarzumachen, dass er nicht der Nabel der Welt ist, dass seine Bedürfnisse warten können und dass sie, die Eltern, ebenfalls Bedürfnisse haben, die manchmal vielleicht sogar mit denen des Kindes kollidieren. Und genau das muss der Nachwuchs aushalten. Kurz gesagt, ist genau das Erziehung. Erziehung ist niemals einfach – das wissen wir wohl alle.
Nicht immer decken sich Wunsch und Wirklichkeit
All die ambitionierten Erziehungsziele, die man sich als Eltern setzt, wenn das Baby noch gar nicht geboren oder noch sehr klein ist, lassen sich nicht so leicht umsetzen. Die eingangs erwähnten Vorsätze, die unerschütterliche Absicht, sich niemals vom Kind auf der Nase herumtanzen zu lassen, gehen vermutlich bei den allermeisten Eltern recht früh in Rauch auf. Auch Kinder haben schon ihren eigenen Willen und ihre individuelle Persönlichkeit.
Als Außenstehender, insbesondere ohne Kinder, stellt man sich die Sache zu einfach vor, wenn man glaubt, man würde eigenen Kindern ein gewisses Verhalten niemals durchgehen lassen. Doch auch hier kann Erfahrung am eigenen Leib für einen grundlegenden Perspektivwechsel sorgen. Es gibt wohl keine Eltern, die ehrlich von sich behaupten können, immer und überall ohne Ausnahme konsequent und pädagogisch wertvoll zu handeln.
Fazit
In den ersten neun Lebensmonaten dürft und solltet ihr euer Baby ohne schlechtes Gewissen nach Strich und Faden verwöhnen. Sobald es jedoch ein gewisses Alter erreicht hat, muss gelten: Ihr erzieht euer Kind – nicht umgekehrt! Grundsätzlich habt ihr das Sagen und gebt die Richtung vor – kleine Ausnahmen kann und darf es geben, aber es sollte nicht so weit gehen, dass euer Kind den Ton angibt.
Die Kunst des Erziehens liegt auch darin zu erkennen, wenn dieser Fall einzutreten droht, und dann so sanft oder geschickt gegenzusteuern, dass daraus ein guter Kompromiss für alle Beteiligten entsteht. Euer Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit. Schon früh sollte es die Erfahrung machen, dass seine Wünsche zwar wichtig sind, aber die der anderen Familienmitglieder auch. Es muss lernen, auch mal zurückzustecken und Kompromisse einzugehen. Am wichtigsten von allem ist jedoch, dass sich euer Kind auch dann geliebt, wertgeschätzt und gestärkt fühlt, auch wenn ihr den Ton angebt und ihm nicht immer nachgebt.