Perfektionismus: Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Nichts ist frustrierender, als wenn ein Traum in tausend Teile zerfällt. Natürlich wusstet ihr, dass euer kleiner Sonnenschein euch auf Trab halten würde, aber trotzdem wart ihr fest überzeugt, die perfekte kleine Familie zu werden. Wenn euer Nachwuchs dann aber stundenlang Terror macht und ihr nervlich am Ende seid, kommt die Bruchlandung in der Realität. So bitter die Enttäuschung zunächst auch sein mag – das Ende der Täuschung ist die Grundlage für das Akzeptieren der Wirklichkeit. Und nur, wenn wir die Dinge sehen, wie sie sind, haben wir die Chance, sie zum Guten zu wenden.
 

Hohe Anforderungen an sich selbst und an das Baby

Erstaunlicherweise waren Schreibabys vor wenigen Jahrzehnten noch so gut wie unbekannt. Und auch in vielen Ländern, die industriell weniger entwickelt sind, hört man so gut wie nichts von diesem Phänomen. Klar: Babys schreien auch mal, aber von Schreibabys würde dort niemand sprechen. Dabei könnte eine Rolle spielen, dass Reizüberflutung – eine der häufigsten Ursachen, warum Babys exzessiv viel schreien,  ist dieses Problem in Ländern, denen ein geringerer Industrialisierungsgrad zugeschrieben wird, ebenfalls weniger ausgeprägt. 
Einen großen Stellenwert hat dabei aber auch ein weiterer Aspekt: Die immer höheren Erwartungen und Anforderungen an uns selbst.

Perfektionismus – Die perfekte Familie

Heutzutage kann man fast den Eindruck erhalten, als seien Babys hierzulande kein natürliches Ereignis mehr. Früher war es geradezu in Stein gemeißelt: Erst die Hochzeit, und die Kinder kommen dann von ganz alleine. Stattdessen sind Schwangerschaft, Geburt und Großziehen mittlerweile so etwas wie Projekte. Alles wird bis ins Detail durchgeplant und durchorganisiert. Zudem warten Paare heute so lange ab, bis sich ein Baby perfekt mit der Karriere vereinbaren lässt.
 
Erst wenn alles unter Dach und Fach ist, wenn beide ihre Karriere wunschgemäß vorangebracht wurden, wäre ein Baby das i-Tüpfelchen auf dem Bilderbuch-Lebenslauf. Ein Kind zu haben, wird idealisiert. Dies führt zu teilweise unrealistischen Erwartungen.

Schon nach kurzer Zeit geht das Baby in die Krippe, damit die Mutter wieder zur Arbeit gehen kann, die nebenbei auch noch den Haushalt managt, ihre Hobbys pflegt, zum Sport geht und natürlich auch in ihrem Beruf weiterhin erfolgreich ist.
Diese Anforderungen kommen nur zum Teil von außen. In erster Linie sind es die Eltern selbst, die sich hohe Ziele setzen, aber auch hohe Erwartungen an das Kind haben.

Die Wunschvorstellung eines ungetrübten Familienglücks, in dem alles noch ein bisschen perfekter wird und in dem das Baby einfach alle nur bezaubert, zerplatzt viel zu schnell wie eine Seifenblase, wenn das Kind schreit und schreit.

So hatte man sich das alles nicht vorgestellt. Das Baby sollte doch ein kleiner Wonneproppen sein, den alle gernhaben und der viel schläft. Das Leben sollte doch genauso weitergehen wie vorher, nur halt mit Kind. Es sollte doch eine glückliche Power-Family werden, die alles mit links meistert. Eine Bilderbuchfamilie eben. Aber so ist es häufig nun einmal nicht – ganz im Gegenteil.

Ein Baby stellt alles auf den Kopf

Mit einer solch starren Erwartungshaltung aus einer Sitcom-geprägten Vorstellungswelt kommt das Kind schon mit einer Riesenbürde auf die Welt. Auf es werden Vorstellungen projiziert, die es schon frühzeitig entweder zu einem Traumkind hochjubeln oder zu einer Enttäuschung abstempeln. Erfahrene Eltern wissen dagegen: Mit einem Kind kommt Chaos in das Leben. Planbarkeit ist da reines Wunschdenken. Das zu akzeptieren wird für so manchen eine harte Nuss sein, doch dies ist die Voraussetzung für eine mentale Beweglichkeit, die das Leben erleichtert. Mit ihr könnt ihr das Kind von Anfang an so akzeptieren, wie es ist.
 

Nichts ist mehr, wie es war

Allerdings wird nicht nur das Kind zur Projektionsfläche der Hoffnungen und Erwartungen der Eltern. Auch die Eltern selbst überschätzen sich, oder besser: Sie unterschätzen, was für eine Kraft ein Kind kostet. Trotz der Belastung auch noch eine stets aufgeräumte und geputzte Wohnung (oder gar ein Haus!) präsentieren zu wollen, ist schon ziemlich ambitioniert. Überforderung und Frust sind vorprogrammiert. Eine überlebenswichtige Fähigkeit von Eltern ist es, auch mal fünfe gerade sein zu lassen. Wenn die Wohnung einmal nicht perfekt geputzt ist, geht davon die Welt nicht unter. Wenn ein Baby da ist, gibt es definitiv Wichtigeres als den Haushalt. Und die Zeiten, in denen die eigene Behausung einem Bild aus Schöner Wohnen gleicht, sind mit einem Baby ohnehin erstmal vorbei.
 

Vorzeigefamilie mit Schreibaby?

Der Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist immer schwierig. Wer gibt schon gerne zu, dass die eigene Familie eben keine perfekte Vorzeigefamilie ist – sei es, weil das Baby die ganze Zeit schreit oder Breireste von des Sprösslings jüngstem Wutanfall die Wand zieren, sei es, weil der Teppich voller Flecken und das Schlafzimmer ein Chaos aus Wäsche ist. Es kann durchaus vorkommen, dass wochenlang nicht gekehrt oder gesaugt wird, weil das Baby die ganze Aufmerksamkeit erfordert, oder dass die Mama nicht wie aus dem Ei gepellt und manchmal vielleicht sogar etwas ungepflegt aussieht, weil sie einfach nicht dazu kommt, auch mal etwas für sich selbst zu tun. Wer spricht schon leichten Herzens darüber, dass die Stimmung wochenlang gereizt ist, weil Mama und Papa viel zu wenig Schlaf bekommen, deswegen dauernd schlechte Laune haben und sich extrem dünnhäutig zeigen?
 
So unangenehm solch ein Eingeständnis sein mag, hilft es nicht, sich in einer solchen Situation noch weiter in die Tasche zu lügen. Bevor man ein Problem lösen kann, muss man es überhaupt erst einmal zu Kenntnis nehmen. Und tatsächlich kann das Benennen des Problems hier schon ein Teil der Lösung sein, insbesondere, wenn es einhergeht mit der Erkenntnis, dass es in dieser Phase völlig normal ist.
Geht daher nicht so streng mit euch ins Gericht und bürdet euch noch zusätzliche Last und Schuldgefühle auf! Wenn euer Baby erstmal da ist, kommt es darauf an, jeglichen Perfektionismus beiseite zu lassen.
 
Ihr werdet im Laufe der Jahre merken: Die Frage, ob ihr gute Eltern seid oder nicht, entscheidet sich nicht daran, ob ihr euer Baby zur Ruhe bekommt oder nicht. Und wenn es euch ein Trost ist: In anderen Familien läuft auch nicht immer alles glatt, auch wenn die meisten alles daran setzen, nach außen ein perfektes Bild abzugeben.
 
 
 

Wer ist schon perfekt?

Lohnt sich das Streben nach Perfektion überhaupt? Vor allem dann, wenn die Herstellung vermeintlicher Perfektion besonders große Opfer in Form von Zeit und  Kraft erfordert? Es geht ja nicht darum, einmal die Wohnung aufzuräumen. Die Ordnung muss jeden Tag aufrechterhalten werden. Wollt ihr euch das tatsächlich antun? Niemand sagt, dass ihr in Dreck und Unordnung versinken sollt, aber ein bisschen Lockerheit entspannt die Situation für alle Beteiligten. Das Baby hört deswegen nicht gleich auf zu schreien,  aber trotzdem: Ihr macht es euch damit ein ganzes Stück leichter.
Herzlichst,
eure Kerstin von swing2sleep

 

2 Kommentare

Mein kleiner Mann ist kein Schreibaby, trotzdem erkenne ich mich in einigen Punkten des Textes wieder. Zwar hatte ich nicht vor gleich wieder zu arbeiten, aber irgendwie dachte ich auch es müsste alles wieder laufen wie vorher. Haushalt, Freunde, Sport, gesunde Ernährung usw. Tatsächlich sitze ich jetzt manchmal mittags im Schlafanzug auf dem Sofa, vor mir die super gesunde Packung Schokolade (eigentlich hatte ich gehofft das hört nach der Schwangerschaft auf…) und sobald ich Sohnemann weg legen will zieht er eine Schnute. Zugegeben sieht das ziemlich süß aus und er weiß inzwischen genau, dass jemand kommt wenn er nur laut genug meckert, aber schaffen tue ich trotzdem nichts. Im Laufe der letzten fünf Monate habe ich trotzdem meine Wege gefunden – Sport wird jetzt mit Baby getrieben, geduscht wird mit kleinem Zuschauer, Einkaufen geht zur Fuß viel stressfreier und dank der Federwiege habe ich jetzt auch mittags meist zwei Stunden um ein bisschen Haushalt zu machen. Ich hatte erst ein schlechtes Gewissen den kleinen da so “weg zu legen”, aber seit er da mittags so lange drinnen schläft ist die Quengelei abends so gut wie gegessen. Also lieber ein bisschen weniger Perfektionismus, dafür wesentlich entspanntere Tage.

Julia 12. Februar 2019

“Was an Perfektionismus unsererseits soll es mit gelegen haben?” Dachte ich während dem Lesen. Nein das kann nicht sein. Also Text mal kurz sacken lassenund drüber nachdenken. Hm, doch das ist was dran :)
Was für uns in der schwierigsten und anstrengendsten Zeit am allerwichtigsten war: wann immer möglich Hilfe und Unterstützung annehmen! Zu Beginn war wie oben beschrieben immer alles ‘perfekt’ zu Hause. Sobald sich Besuch angekündigt hatte (und das ist mit großer Familie am Anfang leider sehr oft der Fall) wurde alles aufgeräumt und der Kaffeetisch gedeckt. Das geht vielleicht ein paar Wochen aber auf Dauer hält das mit einem Schreibaby keiner durch. Richtig wertvoll werden dann Freunde die vorbei kommen und einen Kuchen mitbringen, manchmal sogar noch einen zweiten, damit man für die nächsten Tage was hat. Und wenn die dann bevor sie gehen auch noch den Geschirrspüler aus- und wieder einräumen ist man ihnen einfach nur dankbar und merkt wie wichtig es ist Hilfe anzunehmen.

Nicole 12. Februar 2019

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